Prof. Dr. Dr. Daniel von Wachter im Interview in Colin Barkes und Stephan Langes Podcast „Glaube ist frag-würdig“. Liste der Folgen mit Daniel von Wachter. Zuerst erscheinen die Folgen auf letscast.fm, der Link zum Herunterladen findet sich auf podcast.de. Weitere Plattformen: Youtube, letscast.fm, Spotify, Amazon.de, podcasts.google.com, podcasts.apple.com, Stitcher, Deezer, listennotes.com, podtail.com, Tunen, Pocketcasts, Podcast Addict, RSS-Feed.

Fehlt dem Theismus die wissenschaftliche Begründung?

Oder auch: Warum es Quatsch ist zu sagen: „Es zählt nur das, was die Naturwissenschaft herausfindet.“

Podcast vom 11. Juni 2023 auf podcast.de.

Das Urheberrecht liegt beim Sprecher.

Transkript

(Einige Stellen des folgenden Textes wurden überarbeitet, einige sind Zusammenfassungen des Gesprochenen.)

Interviewer: Herzlich willkommen zum Podcast „glauben ist fragwürdig“. Schön, daß du wieder mit dabei bist. Heute haben wir die Ehre, wieder mit Daniel von Wachter ein Interview zu führen. Es geht heute um ein heißes Thema: Ist es naiv und irrational, von etwas auszugehen, was man nicht wissenschaftlich belegen kann?

Als ich noch kein Christ war, dachte ich mir: Ich will mein Leben wirklich auf möglichst viel Richtigen und Verlässlichen aufbauen. Und deswegen habe ich mir damals gedacht: bei den Naturwissenschaften, da bin ich da ganz genau richtig.

Bei YouTube gibt es ja einige ganz bissige und scharfe Kommentare. Da sagt jemand: Wir öffnen doch Tor und Tür für jeden Aberglauben und sonstige Spinnereien, wenn wir anfangen, Dinge zuzulassen, die naturwissenschaftlich nicht überprüfbar sind. Wer rational sein will, der muss naturwissenschaftlich denken.

Daniel, wie würdest du so einer Sorge begegnen?

00:01:42:11

Daniel von Wachter: Das ist eine ziemlich einflussreiche Denkfigur, sie wird „Szientismus“ genannt. Gerade durch Richard Dawkins wurde sie bekannt. Sie ist sehr verbreitet, sowohl in der professionellen Philosophie als auch in der in der populären Literatur. Es ist wichtig und erhellend, darüber nachzudenken. Gerade eben hast du gesagt, jeder will sein Leben auf möglichst viel Richtigem und Verlässlichem aufbauen. Das ist goldrichtig, dazu werde ich nachher noch mehr sagen. Aber schauen wir uns erst einmal diesen Einwand an. Er lautet, daß die Existenz Gottes und andere Aussagen des Christentums nicht durch die Wissenschaft belegt werden. Für die gibt es keine Beweise, keine wissenschaftlichen Beweise. Und die Wissenschaft ist unser Weg zur verlässlichen Erkenntnis der Wirklichkeit.

Was ist Wissenschaft? Allgemein gesagt ist Wissenschaft das Projekt, möglichst viel Wahrheit zu sammeln, möglichst viel zu erkennen und möglichst sicher zu erkennen. Ferner gehört zur Wissenschaft, daß man es in der Zusammenarbeit mit anderen betreibt und daß man es wirklich professionell betreibt, also gründlich. Nicht nur so mal am Stammtisch ein bisschen drüber reden und dann sagen, was einem so in den Sinn kommt und drei Minuten darüber nachdenken. Sondern Wissenschaft wird von Forschern betrieben, die ihr ganzes Leben dieser Forschung widmen und dann Methoden ausarbeiten und eine gründliche Diskussion führen mit Einwänden und dann eine Methodologie und eine einen gewissen Betrieb entwickeln, wo diskutiert wird. Wenn eine These aufgestellt wird, wird diese hinterfragt und diskutiert.

Wir sollten Wissenschaft als ganz großes Projekt ansehen. Wir wollen möglichst viel Wissen sammeln über möglichst viele Bereiche und mit möglichst viel Gewissheit. Wissenschaft ist nicht eingeschränkt auf nur einen kleinen Bereich. Wir wollen alles wissen. In der Vergangenheit hat man deshalb auch die Theologie dazugezählt, weil man getrieben war von dem Wunsch, alles herauszufinden. Und dann hat man gesagt: die Theologie ist die Erkenntnis durch Offenbarung, also durch die Bibel zum Beispiel, wo Gott uns etwas mitteilt, also Sätze mitteilt. Das hat man auch in die Wissenschaft eingefügt und hat gesagt: es gibt die Wissenschaft, die philosophisch vorgeht, und die Wissenschaft, die mit Experimenten vorgeht. Und es gibt auch die Theologie, die durch Offenbarung erkennt. Will sagen, Wissenschaft ist eigentlich das große Projekt, das alle Erkenntnisse in allen Bereichen sammelt.

Da es ganz verschiedene Dinge gibt, haben sich Disziplinen gebildet, in denen man sich spezialisiert auf einen bestimmten Bereich der Wirklichkeit und dann auf die für diesen Bereich geeigneten Methoden entwickelt. Der Einwand, den wir hier heute anschauen, der wendet sich gegen diese ganzen unsichtbaren Dinge und Tatsachen, die im Christentum behauptet werden, und er geht von der Naturwissenschaft aus und tut so, als ob es keine anderen Wissenschaften gäbe. Wenn da gesagt wird, die Existenz Gottes sei nicht wissenschaftlich belegt, dann kommt das meistens aus dem Englischen, denn da haben wir ja statt des Wortes „Wissenschaft“ das englische Wort „science“, und das kommt zwar auch vom lateinischen „scientia“, hat aber im 19. Jahrhundert eine gewisse Engführung erfahren. Die Bedeutung wurde eingeschränkt auf das, was wir im Deutschen Naturwissenschaft nennen. Im Deutschen ist also der Begriff Wissenschaft ganz breit und umfasst alle Disziplinen. Die Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften weist darauf hin, daß es auch andere Wissenschaften außer den Naturwissenschaften gibt. Aber es bestehen weitere gravierende Unterschiede zwischen den Disziplinen. Die Physik hat sehr andere Methoden als die Biologie, und wiederum andere als die Geologie. Die Geschichtwissenschaft hat ganz andere Gegenstände und Methoden als die Philosophie. Die Geschichtswissenschaft schaut alte Dokumente und anderes Altes an. In der Philosophie hingegen erkennt man hauptsächlich durch Nachdenken. Und die Mathematik hat wieder ganz andere Gegenstände und Methoden. Die Theologie hat wiederum andere Gegenstände und Methoden.

Dem heute diskutierten Einwand liegt die Auffassung zugrunde, daß man nur naturwissenschaftlich Dinge erkennen kann. Das ist schon gar nicht so einfach abzugrenzen. Zählen wir da nur die Erforschung der Naturgesetze dazu oder auch dessen, was es gibt? In der Biologie gibt es vielleicht nichts, was man zurecht Naturgesetze nennen könnte. Da beschreibt man dann z.B., wie Photosynthese funktioniert. Also innerhalb der Naturwissenschaften gibt es eine große Bandbreite. Die Physik ist die theoretische Wissenschaft, die mit der Mathematik als Sprache arbeitet. Die anderen Naturwissenschaften arbeiten mehr mit den Sinnen. Sie erstellen Beschreibungen von Gegenständen und von Mechanismen.

Die Naturwissenschaft braucht viel andere Erkenntnis. Zum Beispiel die Mathematik. Außerdem braucht man auch gewisse apriorische Erkenntnisse, philosophische Erkenntnisse. Zum Beispiel, wie man überhaupt Indizien auswertet. Welches Indiz stützt welche Hypothese? Das braucht man auch in der Naturwissenschaft, und das kommt nicht selber aus der Naturwissenschaft. Man kann nicht nur mit den naturwissenschaftlichen Methoden etwas erkennen.

Der Einwand, den wir jetzt untersuchen, unterscheidet da nicht weiter. Aber er sagt, daß es für die Existenz Gottes keine „wissenschaftlichen“ Belege gäbe. Das heißt, die vielen Argumente für die Existenz Gottes, werden nicht anerkannt, sie werden ignoriert. Da liegt die Antwort auf der Hand: Naturwissenschaftliche Methoden sind halt nur für naturwissenschaftliche Gegenstände, also für materielle Gegenstände gemacht und geeignet. Für andere Gegenstände gibt es andere Methoden. Zu sagen, man soll an nichts glauben, wofür es keine naturwissenschaftlichen Gründe gibt, das ist ja unbegründet, weil man ja erst mal herausfinden müsste, ob es noch andere Gegenstände gibt als die, welche die Naturwissenschaft untersucht.

Zusammengefasst ist jetzt dieser Teil der Antwort: Naturwissenschaftschaftliche Gründe gibt es nur für die Gegenstände der Naturwissenschaft, und das sind die materiellen Gegenstände. Die Existenz Gottes wird nicht durch die Naturwissenschaft untersucht, und deswegen gibt es weder Gründe dafür noch dagegen aus der Naturwissenschaft. Es gibt keine Argumente aus der Naturwissenschaft gegen die Existenz Gottes. Daß es keine naturwissenschaftlichen Gründe für die Existenz Gottes gibt, heißt nicht, daß Gott nicht existiert.

Der Einwand ist so, wie wenn man sagen würde: Mathematik gibt es nicht, weil wir sie naturwissenschaftlich nicht untersuchen können. Oder man könnte sagen: Für die Annahme geschichtlicher Tatsachen gibt es keine Gründe, weil man sie naturwissenschaftlich nicht untersuchen kann. Oder: es gibt keine moralischen Tatsachen, weil man diese naturwissenschaftlich nicht nachweisen kann.
Aber es ist ganz irrational zu leugnen, daß es solche Tatsachen gibt. Jeder Mensch hat ganz viele Überzeugungen, die nicht naturwissenschaftlich und schon gar nicht nur naturwissenschaftlich belegt wären. Dennoch sind sie gerechtfertigt.

00:12:50:07

Interviewer: Eine Rückfrage. Teil des Einwands ist ja, daß wir dann Tür und Tor für Aberglauben und Spinnereien öffnen. Kann man dann nicht alles behaupten und sagen, das kann einfach die Naturwissenschaft nicht erkennen? Es könnte ja eine Gruppe sagen, es ist eine Wissenschaft, an das fliegende Spaghettimonster zu glauben.

Daniel von Wachter: Es gib nicht nur keine naturwissenschaftlichen Gründe für einen Glauben an Spaghettimonster, sondern gar keine. Für die Existenz Gottes hingegen gibt es einen Haufen Gründe. Es gibt viele starke Indizien für die Existenz Gottes.

00:14:37:17

Interviewer: Wir wollen mal mit einem anderen Kommentar zur eigentlichen Kernfrage der heutigen Folge kommen. Wie gesagt, das ist eben schon erwähnt. Er sagt: Naturwissenschaftliche Methoden sind die einzigen Methoden, mit denen wir uns der Wahrheit nähern können. Leute wie Richard Dawkins und Stephen Hawking sagen dasselbe. Hawking setzt noch einen drauf und sagt, die Philosophie mit ihren Erklärungen ist tot, es lebe die Naturwissenschaft. Und dann stellen wir uns jetzt einmal vor, du würdest nachher Dawkins und Hawking im Restaurant treffen. Was würdest du jetzt den beiden sagen?

Daniel von Wachter: Wir haben grob gesagt zwei Arten der Erkenntnis. Die eine ist Beobachtung. also Erfahrung. Nehmen wir mal das Wort Wahrnehmung dafür. Die andere Art der Erkenntnis ist Erkenntnis durch Indizien.

Bei der Wahrnehmung ist es so, daß sich uns etwas aufdrängt als so und so seiend. Also wenn wir mit den Augen einen Baum sehen, dann stellt sich mir die Welt so dar, als ob es dort einen Baum gäbe. Das drängt sich mir auf. Ich bin da passiv. Es stellt sich mir die Welt auf eine bestimmte Weise dar. In einer Wahrnehmung stellt sich mir etwas dar. Die Welt drängt mir eine bestimmte Überzeugung auf. Der Gegenstand kommt auf mich zu, tritt mit mir in Kontakt, oder ich versuche, mit ihm in Kontakt zu treten. Und dann ist er da und gibt mir einen Eindruck. Und dieser Eindruck dann führt zur Überzeugung. Eindrücke sind eine Erkenntnisquelle. Solange ich keine Gründe habe anzunehmen, daß eine Täuschung vorliegt, sollte ich den Eindrücken trauen. In einem gewissen Maße, das der Schärfe und der Klarheit der Eindrücke entspricht.

Wahrnehmung sollte man in einem weiten Sinne fassen. Moralische Tatsachen zum Beispiel, die sehen wir nicht mit den Augen, auch nicht durch die Ohren. Aber wir sehen sie, wir nehmen sie wahr, wir spüren sie doch sehr deutlich. Sie drängen sich, uns auf. Da kann man auch sagen, daß das eine Wahrnehmung ist. Da liegt eine Erscheinung, ein Eindruck vor.

Aus den durch Eindrücke gewonnenen Erkenntnissen können wir oft andere Dinge ableiten. Wenn wir Rauch aufsteigen sehen hinter einer Mauer, dann können wir daraus ableiten, daß da wahrscheinlich ein Feuer ist, welches den Rauch verursacht. Es könnte auch eine Rauchmaschine dort sein, aber daß da ein Feuer ist, ist eine naheliegende Möglichkeit. Eine naheliegende Erklärung für das, was wir sehen. Eine Ursache für das, was wir sehen. Und so kommen wir zur Erkenntnis durch Indizien.

Wir können Hypothesen bilden, die eine Erklärung bieten, indem sie die Ursache des Indizes beschreiben. So können wir aus den Dingen, die wir durch Wahrnehmung erkennen, weitere Überzeugungen ableiten, die nicht direkt auf Wahrnehmung beruhen. Wir kennen das aus Detektivgeschichten. Fingerabdrücke auf der Waffe sind ein Indiz dafür, daß die betreffende Person der Mörder war. Wobei man da auch die Möglichkeit erwägen muß, daß jemand den Fingerabdruck gezielt dort angebracht hat, um einen falschen Verdacht zu werfen. Es gibt also Erkenntnis durch Wahrnehmung und Erkenntnis durch Indizien. Und man kann natürlich eine Sache auch sowohl durch Indizien als auch durch Wahrnehmung erkennen. Das ist allgemein die Methode der Erkenntnis. Naturwissenschaftliche Methoden sind nur ein Ausschnitt daraus. Da haben wir sowohl Beobachtungen als auch Indizien. Zu einer gewissen Zeit herrschte die Vorstellung, daß Naturwissenschaften nur durch Sinneseindrücke erkennen, aber das ist sicher nicht so, weil wir ja auch Theorien über Elektronen oder über Quarks bilden, die wir nicht beobachten. Da ist ein Denkprozess dabei. Die naturwissenschaftlichen Methoden sind nur ein Spezialfall der Erkenntnis durch Wahrnehmung und durch Indizien.

Auf die Aussage Hawkins' „Die Philosophie ist mit ihren Erklärungen ist tot, es lebe die Naturwissenschaft“ würde ich antworten: die Naturwissenschaft braucht einen Haufen Philosophie, sie braucht die Mathematik und sie braucht ein Haufen logisches Denken. Wie man überhaupt Experimente durchführt und wie man Indizien auswertet, das kann durch die naturwissenschaftlichen Methoden i.e.S. selber nicht erkennen. Und auch die Augen können das nicht erkennen. Dazu muss man nachdenken, und das ist eigentlich die Erkenntnismethode der Philosophie. Diese Naturwissenschaft, die ohne Philosophie auskommt, die gibt es nicht. Und es gibt nun einmal auch Eindrücke und Erkenntnis durch Indizien außerhalb der Naturwissenschaften. Also wer Eindrücke bestreitet, die man hat, der ist genauso irrational wie jemand, der Überzeugungen annimmt, für die er keine Eindrücke oder Indizien als Stützen hat. Rationalität funktioniert in beide Richtungen. Man kann zu viel glauben, indem man etwas glaubt, wofür es keine Gründe gibt. Man kann aber auch zu wenig glauben, nämlich wenn man einen Sinneseindruck hat und sagt: Ich habe zwar den Sinneseindruck, lehne ihn aber ab, weil er nicht naturwissenschaftlich ist. Das ist genauso irrational. War sagt, ich habe keine Ahnung, ob Kinder zu foltern schlecht ist, der ist irrational, weil er eben den Eindrücken nicht folgt. Er bildet seine Überzeugungen nicht auf die richtige Weise, weil er Daten, die ihm zur Verfügung steht, nicht richtig verwertet. Es ist eine irrationale Haltung, die Hawking da an den Tag legen.

00:21:18:00

Interviewer: Ist die Achillesverse des Einwands nicht, daß er sich selbst widerspricht?

Daniel von Wachter: Bisher habe die Antwort dargelegt, daß die Naturwissenschaft nur ein Teil der Wissenschaft ist und nur einen Teil der Gegenstände untersucht. Der zweite Einwand ist der, daß diese These selbst, also „Die naturwissenschaftlichen Methoden sind die einzigen, mit denen wir uns der Wahrheit nähern können“ selbst kein Ergebnis der naturwissenschaftlichen Methoden ist, ganz egal, wie eng oder weit man diese Methoden fasst. Da führt kein Weg mit naturwissenschaftlichen Methoden hin, da kann man keine Experimente machen und da kann man auch keine Beobachtungen machen, um diese These zu belegen. Das ist eine rein. Also abgesehen davon, daß sie falsch ist, ist sie ihrem Charakter nach eine philosophische These, eine denkerische These. Der szientistische Einwand stellt eine These auf, die, wenn sie wahr wäre, nicht begründet wäre und gemäß der These nicht angenommen werden dürfte.

Interviewer: Ich treffe jetzt manchmal auf Leute, die dann so sagen okay, so ein Widerspruch, ja, das muss jetzt einmal sein. Schlimm finde ich das nicht. Was willst du da sagen?

Daniel von Wachter: Es ist wichtig zu sehen, daß es Menschen gibt, die sich nicht davon bewegen lassen, daß etwas widersprüchlich ist. Vernunft ist freiwillig. Wenn man sich nicht um Wahrheit aktiv bemüht, wenn man sich nicht bemüht, das, was einem durch den Bauch und durch den Kopf geht, zu kontrollieren und da mit der Vernunft auf Wahrheit hin abzuklopfen, dann geht man in die Irre. Wenn man seinen Gefühlen nachgeht zu dem, was man gerade denkt und meint oder was man so schön schnippisch formulieren kann, dann wird man keine Wahrheit erkennen. Vernunft ist das Verhalten, durch das man die besten Chancen hat, Wahrheit zu erkennen. Vernünftiges Denken ist richtiges Denken. Es ist das Denken, durch welches man am ehesten Wahrheit findet. Wenn man beobachtet, daß manche Menschen sich durch Widersprüche nicht abschrecken lassen, dann zeigt das nur, daß die Vernunft sich uns nicht aufzwingt. Man kann Widersprüchliches oder Inkohärentes glauben, aber wer es tut, der wird sich dann falsche Überzeugungen aneignen.

Wir stehen vor der Wahl, ob wir Wahrheit wollen oder nicht. Wenn man über den Einwand „Die Existenz Gottes ist Aberglaube, weil es keine naturwissenschaftlichen Gründe gibt“ nachdenkt, sieht man schnell: Moment mal. Daß es keine naturwissenschaftlichen Gründe gibt, heißt ja nicht, daß es gar keine Gründe gibt. Wenn man jetzt Wahrheit sucht, dann geht man diesem Gedanken nach und sagt: Gibt es denn andere Gründe? Gibt es Indizien für die Existenz Gottes? Vernunft ist in gewisser Weise ganz einfach. Jeder kann sie in sich pflegen und kann ihr folgen. Jeder hat den Schalter, um Vernunft in sich anzuschalten. Man schaltet die Vernunft in sich an, indem man nach Wahrheit fragt. Gibt es einen Gott? Zum Beispiel. Wenn man diese Frage stellt und ihr nachgeht, dann schaltet sich ein gewisser erkenntnistheoretischer Kompass an, der sagt, was man jetzt machen muss.

Dann sieht man auch, daß der szientistische Einwand nicht stimmt, weil es eben auch andere Gründe geben kann als nur naturwissenschaftliche. Und weil die Naturwissenschaft selber auch Voraussetzungen und Einsichten und Erkenntnisse braucht, die wir nicht mit den naturwissenschaftlichen Methoden erkennen.

Die Wahrheitsliebe, die Wahrheitssuche ist Voraussetzung für alle Erkenntnis. Man kann lange diskutieren, man kann Bücher lesen, man kann Argumente vortragen. Derjenige Mensch, der nicht die Wahrheit sucht, der nicht in sich diesen Schalter umlegt und dann auch bereit ist, seine Überzeugung zu revidieren und die Indizien wirklich zu verfolgen, der wird die Wahrheit nicht erkennen. Wir können ziemlich bockig sein, ziemlich störrisch sein. Nur selten sind Überzeugungen so aufdringlich, daß sie auch gegen unseren Willen in uns einstellen.

Wenn ich meine Augen öffne und ich sehe den Baum, dann habe ich die Überzeugung ziemlich unwillkürlich Da kann ich kaum was dagegen tun. Ich kann nur die Augen zumachen. Manche Überzeugungen sind so. Andere Überzeugungen sind aber nicht so, denen kann man sich verweigern. Und die Überzeugungen im Bereich der Existenz Gottes, denen kann man sich ziemlich stark verweigern. Da sie sich nicht so aufdrängen wie eine Erkenntnis durch die Augen, kann man auch anfangen, sie zu untergraben, indem man sagt : Oh, das ist nicht naturwissenschaftlich erkannt. Wahrheitsliebe ist in vielen Bereichen der Erkenntnis die unbedingte Voraussetzung für Wahrheit, Erkenntnis. In der Philosophie ist das besonders stark. Ich würde sagen, im Bereich der Philosophie ist ein Großteil der Theorien, die so vorgestellt werden, derart, daß ihnen die Wahrheitsliebe fehlt. Philosophen vertreten oft Theorien, die verrückt sind. Wenn jemand sagt, es gibt keine moralischen Tatsachen oder es gibt keine Außenwel, dann widersprechen diese Aussagen dem gesunden Menschenverstand. Es sind verrückte Theorien, die daher kommen, daß sie nicht der Wahrheitsliebe entspringen. Wenn man keine Wahrheitsliebe pflegt, wird man keine Wahrheit erkennen.

Wenn man aber Wahrheitsliebe pflegt, dann kann man manche Einwände oder Positionen schnell ad acta legen. Zum Beispiel den szientistischen Einwand. Der normale Mensch, der ein bißchen nachdenkt, wird sofort sagen: Wieso, es ist halt kein naturwissenschaftlicher Gegenstand. Wenn aber ein Dawkins oder ein Hawkins diesen Einwand so nachdrücklich vortragen, dann ist meine Diagnose: denen fehlt die richtige Wahrheitsliebe, zumindest in diesem Gegenstandsbereich. Nicht jeder Wissenschaftler ist wahrheitsliebend.

Gerade in der Philosophie gibt es so viele Theorien, die man eigentlich schnell ad acta legen kann. Man kann sie gründlich erforschen und die komplizierten Ausführungen von von schwer zu lesenden Philosophen erörtern. Aber viele Theorien kann der gesunde Menschenverstand durch Wahrheitsliebe schnell ad acta legen. Wenn einer sagt, es gibt keine Außenwelt, oder wir wissen nichts über die Außenwelt, dann weiß der normale, gesunde Menschenverstand sofort: Das ist Quatsch. Warum ist es Quatsch? Weil sich die Außenwelt uns aufdrängt. Wer sagt, die gibt es nicht, der widerspricht dem, was am alleroffensichtlichsten ist. Dafür kann er überhaupt keine Gründe haben.

Ich verwende das Wort „Quatsch“, weil man auch mal mit einem gewissen Schwung an die Erkenntnis gehen muß. Aber nicht aus dem Bauch oder aus Neigungen heraus, sondern nur dann soll man eine Theorie oder einen Einwand verwerfen, wenn man sieht, daß nichts wirklich dafürspricht. Dann soll man sie vom Tisch wischen und mit der Wahrheitssuche fortfahren und sich mit den ernstzunehmenden Argumenten befassen.

Interviewer: Willst Du noch mehr zu dem Einwand sagen? Ich will nur noch mal darauf hinweisen, daß dieser englische Begriff „science“ sehr irreführend ist, weil er sich eben nur auf die Naturwissenschaften bezieht. Der deutsche Begriff Wissenschaft ist da viel günstiger, weil er Wissenschaft als Gesamtprojekt erfasst. Ob eine Frage oder eine These naturwissenschaftlich ist, ist zweitrangig. Die Abgrenzung läßt sich sowieso nicht eindeutig durchführen, weil jede naturwissenschaftliche Erkenntnis auch denkerische Teile oder Voraussetzungen hat. Wenn sich eine Frage stellt, suche die Antwort. Suche alle möglichen Indizien oder Wahrnehmungen, egal ob sie naturwissenschaftlich sind. In der Diskussion über die Evolutionstheorie z.B. wird viel darüber gestritten, ob sie naturwissenschaftlich sei und ob die Einwände gegen sie naturwissenschaftlich seien. Doch das ist völlig egal. Wir wollen einfach die Wahrheit finden. Also stell die Frage suche die Wahrheit. Folge deinem epistemologischen Kompass.

Interviewer: Mir fällt auch noch eine kurze Frage ein, die vielleicht ein Thema für eine für eine weitere Folge wäre. Du hast ja vorhin gesagt, manche Dinge drängen sich uns einfach auf. Jetzt kann man sich ja fragen: Ja, Mensch, ihr lieben Christen, wenn doch Gott will, daß jeder Mensch mit ihm in Beziehung ist, warum ist er dann so werbetechnisch so, ich sage mal ganz blasphemisch, so unklug drauf, daß er sich nicht aufdrängt wie die Außenwelt oder wie moralische Tatsachen oder wie der Baum vor meiner Nase? Warum macht das denn Gott nicht? Wie gesagt, das ist eine ganz großes Thema. Vielleicht nur so ein ganz kurzer Appetithappen von dir. Was wäre denn deine Antwort darauf?

Daniel von Wachter: Das ist eine gute Frage und ein guter Einwand. Er wird in der Philosophie gründlich diskutiert. Die kurze Antwort ist, daß es stimmt, daß die Existenz Gottes nicht so offensichtlich ist, wie manche andere Dinge. Das heißt, Gott versteckt sich etwas, und ein Grund, den man sich denken kann dafür ist, daß wenn Gottes Existenz ganz offensichtlich wäre, dann gäbe es keine Möglichkeit für uns, uns Gott zu entziehen. Wir könnten uns dann nicht von Gott zurückziehen. Es wäre keine Freiwilligkeit mehr in unserer Beziehung zu Gott. Beim Apostel Paulus zum Beispiel war es so Der hatte eine Vision und war umgeworfen von der Existenz Gottes und von der Wahrheit, daß Jesus der Erlöser und der Sohn Gottes ist. Der hatte in dem Moment keine reale Möglichkeit, sich Gott zu widersetzen. Aber bei den meisten Menschen ist das nicht so. Sie hören etwas von Gott als Kinder, und wenn sie dann kurz darüber nachdenken, erscheint es manchen uneindeutig, ob Gott existiert. Ob sie dann zur Gotteserkenntnis kommen oder nicht, das hängt davon ab, ob Sie eben versuchen, die Wahrheit herauszufinden. Es stimmt also, daß Gottes Existenz nicht so offensichtlich ist, wie sie sein könnte. Und ein Grund dafür, den wir uns denken können, ist, daß Gott das tut, damit wir einen freien Willen darin haben, ob wir Gott suchen oder nicht und ob wir ihn annehmen oder nicht.

Interviewer: Vielen Dank.